Du wusstest doch, auf was du dich einlässt

„Sie haben aber doch gewusst, auf was Sie sich einlassen,“ sagt die Ärztin zu mir, während sie meine Haut nach möglichen Krebsflecken untersucht. Es durchzuckt mich. Es ist nicht das erste Mal, dass ich so etwas höre. „Ja, ja, natürlich!“, antworte ich schnell. „Deswegen habe ich ja auch schon vorgesorgt und mir ein Netzwerk aufgebaut.“ Ich lenke ab. Was soll dieser scheiß Satz!?, denke ich. Man sagt doch auch nicht, Sie wussten doch, dass der Straßenverkehr gefährlich ist und tödlich sein kann. Jetzt wundern sie sich nicht, dass sie querschnittsgelähmt sind. Oder, Sie wussten doch, dass eine Geburt schmerzhaft sein kann. Jetzt heulen Sie nicht rum und beschweren sich, dass die Ärzte ihnen noch zusätzlich Gewalt angetan haben. Oder Sie wussten doch, dass in der Medienbranche Arbeit ausbeuterisch und schlecht bezahlt ist, mit langen Arbeitszeiten und ohne freies Wochenende. Jetzt beschweren Sie sich nicht, dass Sie ein Burnout haben. Oder, Sie wissen doch, dass Männer im Büro sexistisch sein und auch mal zulangen können. Jetzt haben Sie sich mal nicht so.

Na klar, es gibt vieles, was ich weiß. Heißt das dann im Umkehrschluss, dass nur der auf Verständnis stoßen kann, der dumm und naiv durch die Gegend läuft? So, wie man Menschen an den Pranger stellen und vor Gericht zerren will, weil sie trotz HIV ohne Verhütung Geschlechtsverkehr hatten? Wenn sie um ihre Erkrankung wissen, dann können sie verantwortlich gemacht werden. Wer sich hingegen nie testen lässt, sich nie fragt, ob er selbst oder der andere krank sein könnte, muss hingegen nichts befürchten. Der Spruch „Dumm f**** gut“ stimmt an dieser Stelle wohl. Oder wie ist das zu verstehen?

Die meisten Frauen auf dieser Welt sind mit Männern zusammen, von denen sie abhängig sind. Meist finanziell. Ihnen alle könnte man vorwerfen, dass sie das doch hätten wissen müssen. Jetzt sollen sie sich halt fügen und nicht beschweren. Okay, was ist denn dann die Alternative? Keinen Mann mehr heiraten? Überhaupt nicht mehr mit Männern zusammen sein?

Ja, die meisten von uns lassen sich auf Menschen ein, die ihnen nicht immer gut tun, mit denen sie Schwierigkeiten haben, mit denen es nicht immer harmonisch läuft. Nicht immer gibt es eine komplett freie Wahl. Am Arbeitsplatz, in der Schule, in der Familie, in der Beziehung. Ja, ich hätte mich gegen den Mann meiner Kinder entscheiden können. Dann hätte ich keine Kinder gehabt. Nun habe ich sie aber – mit ihm. Dass er sich das Recht herausnimmt, weitestgehend abwesend zu sein, finde ich trotzdem scheiße. Und nein, das hätte ich nicht gedacht, dass es so schlimm werden könnte. Selbst wenn. Ich habe ein Recht dazu, zu sagen, dass ich etwas so nicht haben möchte, dass ich so nicht behandelt werden möchte, dass ich es anders haben will. Dass ich mein Recht einfordere, dass ich Gleichberechtigung möchte, dass ich die gleichen Chancen haben möchte, finanziell, sozial, privat. Dass ich ein Recht auf mein eigenes Leben habe. Und nicht völlig fremdbestimmt sein möchte.

Würdest du es wirklich wagen, einer Frau, die geschlagen wurde, zu sagen, sie haben doch gewusst, dass er cholerisch und aufbrausend ist. Was wundert sie sich jetzt, dass er sie geschlagen hat. Warum wundert sie sich, dass jemand so sein kann. Sie wussten doch vorher, worauf sie sich einlässt. Ich glaube, es gibt viele, die genau das sagen und denken. Genau wie mit Prostituierten: sie wüssten doch, worauf sie sich einlassen, da müssten sie sich nicht wundern, vergewaltigt, geschlagen und gedemütigt zu werden (als sei das Teil des Geschäfts… ist es eben nicht!) Oder mit Leuten, die in ausbeuterischer Arbeit stecken, dass sie da jederzeit aussteigen und was anderes machen könnten. Dass wir angeblich alle frei wären, frei entscheiden könnten, was wir heute tun und was morgen.

Wir alle befinden uns in sozialen und wirtschaftlichen Zwängen. Wir können oft nicht aus unserer Haut. Wie viele trauen sich nicht, von zu Hause wegzuziehen, weil sie ihre Eltern nicht enttäuschen wollen. Wie viele trauen sich nicht, gegen Mobbing vorzugehen, weil sie sonst Angst haben, sie könnten ihren Job verlieren. Wie viele trauen sich nicht, sich gegen einen zudringlichen Chef zur Wehr zu setzen, weil sie vom Job abhängig sind. Und wie viele bleiben in einer Beziehung, weil sie es finanziell selbst sonst nicht schaffen würden oder auch kräftemäßig mit den Kindern alleine klarzukommen. Es gibt so vieles, was uns gefangen hält. Deswegen geben wir noch lange nicht die Eigenverantwortung auf. Viele, die in solchen Situationen stecken, wünschen sich nichts sehnlicher als auszubrechen, aber der Verlust oder das Neue könnten noch schlimmer sein als das Alte (siehe Frauen, die sich von ihren Männern trennen und dann erst die ganze Tyrannei kennenlernen, zu der der Mann imstande ist).

Deswegen muss einem nicht zum Vorwurf gemacht werden, man müsse das jetzt ertragen und ausbaden und es geschehe einem recht, weil man es ja hätte wissen müssen. Klarer Fall von Victim Blaming.

Rosita-Schwein so deprimierend

Am Wochenende haben wir vier Kindern abends einen Film angemacht, weil sie schon müde waren, noch was essen mussten und kurz vorm Durchdrehen waren. Also haben wir Mütter sie den Kinderfilm „Sing“ anschauen lassen. Darin schafft es eine Schweinchen-Mutter von 25 Ferkeln in eine Castingshow und wird genommen. Als sie zu den Proben und schließlich zum Auftritt muss, hat sie keine Unterstützung, weder Nannys noch ihr Mann stehen ihr bei, nehmen ihr die Arbeit, die Kinder, den Haushalt ab. Nannys legen bei der Zahl der Kinder auf. Der Mann schläft abends direkt vor dem Fernseher ein, wechselt mir ihr noch nicht einmal ein Wort. Also muss sie sich einen Plan ausdenken und baut die ganze Nacht über ein System im Haus, das automatisiert die Kinder und den Ehemann weckt, ihnen Frühstück macht, beim Anziehen hilft und sie zur Tür rausschickt. Sie selbst hat keinen Schlaf bekommen und eilt noch vor allen aus dem Haus. Es soll lustig sein, aber es ist einfach nur traurig. Eine Mutter ist völlig auf sich allein gestellt. Sie hat kein Netzwerk, ist völlig übermüdet, muss für ihren Traum heimliche Wege gehen, kann nicht offen Hilfe empfangen, muss für sich Lösungen finden, um irgendwie weiterhin ihrer Mutterrolle gerecht zu werden. Diese abstreifen darf sie nämlich nicht.

Stillen in der Öffentlichkeit – Baby hungert

Wenn Du ein Problem damit hast, dass Frauen in der Öffentlichkeit stillen, und Du Dir wünschst, dass es ihnen verweigert wird, dann schadest Du nicht nur der Frau, sondern Du schadest ganz explizit dem Kind. Denn Du verweigerst dem Baby die Nahrungsaufnahme! Du willst, dass das Kinder hungert, dass es nichts zu trinken/essen bekommst. Du willst nicht, dass es gefüttert/gestillt wird. Du findest es OK, dass das Baby vor Hunger und Durst schreit, dass es hier und jetzt nichts in seinen kleinen Magen bekommt, dass es keinen Hautkontakt haben darf, dass es keine Ruhe finden darf, dass es einfach das bekommt, was Du gerade vermutlich in einem Restaurant oder Café zu Dir nimmst – Nahrung!

Aber Du schließt auch die Mutter aus dem öffentlichen Leben aus. Du willst nicht, dass sie teilhat am Leben draußen auf der Straße, in Cafés, in Restaurants, in Parks, in Kaufhäusern – eben überall dort, wo Du Dich außerhalb Deines Zuhauses aufhältst, Besorgungen machst, Freund:innen triffst, es Dir gutgehen lässt.

Du hast nicht nur ein Problem mit Brüsten und schmatzenden Babys in der Öffentlichkeit, während Du Dir in Pornos vermutlich zuhauf nackte Brüste reinziehst. Du hast auch ein Problem damit, dass ein Baby etwas ganz Grundlegendes verlangt – Nahrung! Arsch