Wir sollen Konfliktexpertinnen auf Profi-Niveau sein

Du bist schwanger oder gerade frisch gebackene Mutter. Und dann kommt da diese Welt, in der es nach Babylotion riecht, nach frischer Kinderwäsche, nach süßlicher Babykopfhaut, diese Welt, wo Windeln säuberlich neben Schnullern und Milchflaschen drapiert sind, wo Sterntaler-Mobile über dem Wickeltisch hängen und die Wände mit süßen Tiermotiven dekoriert sind, wo mit Pünktchen verzierte Vorhänge die Fenster umrahmen und Spieluhren vor sich hin klimpern, Wo selbstgemachte Breigläschen im Tiefkühlfach warten und der 1.000 Euro teure Kinderwagen im Flur steht. Aber dann mischt sich da süßlich stinkender Kotgeruch aus dem Windeleimer in diese rosarote und hellblaue Kinderlandschaft, Kotzflecken beschmutzen die Kleidung und den Boden, Babygeschrei lässt und nicht einschlafen oder sofort wieder aufwachen, nachdem wir nur für fünf Minuten in einen unruhigen Schlaf gesunken sind, und Menschen sind auf einmal ganz weit weg, die wir jetzt doch so dringend gebrauchen könnten. Bald schon stapeln sich Bücher zu gewaltfreier Kommunikation in unserem Schrank, während die Welt um uns herum uns jeden Tag mit Anlauf, Springerstiefeln und voller Wucht in den Rücken springt.

Aber wir, hier in den privaten Räumen, abgeschieden von der Außenwelt, da sollen wir eine Idylle, eine Scheinwelt aufrecht erhalten, die aber von draußen mit Füßen getreten wird. Nur, damit jeder glaubt, wir würden hier in Harmonie leben und die ganze Gewalt in den Familien nicht ein Ausdruck gesellschaftlicher Gewalt ist, sondern nur psychische Labilität und hysterischer Ausbrüche von krankhaften Frauen sei, die einfach nur an sich arbeiten sollen. Dann hätten wir endlich auch glückliche Kinder und müssten uns um sie keine Sorgen mehr machen. Jugendämter sind überlastet, Psycholog:innen ausgebucht, der Schuldenberg der Regierung immens, die Haushaltskassen für soziale Hilfen leer. Also, kauft Euch Ratgeber, liebe Mütter, damit ihr selbst dafür sorgt, ein liebevolles Zuhause zu schaffen, auch wenn ihr auf dem Zahnfleisch geht. Ihr sollt im Verborgenen das zelebrieren, was in der Öffentlichkeit nicht gelebt wird. Ihr sollt glücklich und liebevoll sein, auch wenn ihr jeden Tag politisch, wirtschaftlich und sozial im Stich gelassen oder gar ausgepeitscht werdet. Klingt dramatisch? Ist es auch. Du kommst aus dem Kranken- oder Geburtshaus nach Hause und hinter dir schlägt die Tür zu.

Und auf einmal realisierst du – entweder gleich oder nach ein paar Tagen oder Wochen – Scheiße, ich bin ja ganz allein. Ich bin völlig auf mich gestellt. Und dann wird das süße Kinderzimmer, das hübsch drapierte Familienbett und die kindgerecht eingerichtete Küche plötzlich zu einem Ort der Schwere, der Einsamkeit, der Verzweiflung, des Horrors. Du bekommst keinen Schlaf, das macht dich mürbe, reizbar, aggressiv, aber du darfst es nicht zeigen, geschweige denn ausleben. Du bekommst zu wenig zu Essen, auch das laugt dich aus, macht dich schwach, lässt deine Milch zurückgehen, entzieht dir Energie. Aber auch hier sollst du immer schön lieb und brav bleiben. Du steigst über Wäscheberge, stolperst über herumfliegendes Spielzeug, kannst die Spüle vor lauter dreckigem Geschirr nicht mehr benutzen und stehst vor einem leeren Kühlschrank. Du hältst das Chaos kaum noch aus, es raubt dir Kraft und macht dich wahnsinnig, aber du sollst dem ganzen ein Lächeln schenken und dich fragen, ob du lieber eine entspannte Mutter sein oder eine aufgeräumte Wohnung haben möchtest. Beides wäre echt zu viel verlangt.

Ohnehin sollst du permanent deine Ansprüche herunterschrauben, denn die seien das eigentliche Übel deiner schlechten Laune und des ganzen Stress. Du sollst trotz Schlafentzug und Hunger einfach mal wieder meditieren. Dann würde sich schon alles wieder fügen. Und immer schön die Ratgeber lesen. Du fühlst dich wie eine Sklavin, völlig fremdbestimmt, mit offenen Wunden am Körper, alles gut weh, deine Arme und Beine fühlen sich wie blei, die platzt fast der Kopf und du willst nur noch schreien, aber dir wird jeden Tag aufs neue nach allen Strapazen das Baby auf deinen geschundenen Körper gelegt, dass du voller Liebe in den Schlaf wiegen und singen sollst, auch wenn dir zum Kotzen elend ist. Aber, pssst, das ist immer nur ein Fall für die Ratgeber, die sich ja nur mit Ausnahmezuständen befassen, nicht mit dem alltäglichen harmonischen Elternsein, sondern mit den Schizo-Müttern, die das nicht hinkriegen. Und so eine Schizo-Mutter bist jetzt auch du. Und du denkst, du seist eine Ausnahme, würdest es einfach nicht gebacken kriegen, während es alle anderen doch irgendwie hinbekommen. Genau das sind die Gedanken, die dir in den Kopf gepflanzt wurden, von kindesbeinen an. Das hat nicht erst jetzt angefangen. So bist du schon in die Schwangerschaft, so in dein Mutterdasein gepurzelt. Mit diesen so herrlich dich kontrollierenden Gedanken, die genau das tun, was sie sollen. Dich selbst zu deiner schärfsten Kritikerin zu machen und so müde und schwach, dass du niemals, aber auch niemals aufbegehren wirst. Du Versagerin. Nicht war?

Aber hey, wenn dein Kindergarten- oder Schulkind tobt, dich anschreit und so richtig viel Stress zu Hause veranstaltet, dann darfst du nicht ausrasten und dagegen anbrüllen, weil dir alles über den Kopf wächst und du diese Gefühlsaubrüche jetzt nicht auch noch gebrauchen kannst. Nein, die Jahre der Entbehrung und harten Arbeit, die dich völlig ausgezehrt haben, die dürfen nicht sichtbar werden, hier nicht zur Debatte stehen, niemals der Grund für deine Ausraster sein. Nein! Du sollst dich schön im Griff haben und erkennen, dass du bloß bis heute noch nicht an deinen Triggern gearbeitet hast. Denn dein Kind sorgt mit seinen Wutausbrüchen doch nur für sich. Und Du? Du etwa nicht?!?!? Nein, du bist hysterisch, krank und außerdem erwachsen, heißt, du sollst dich gefälligst beherrschen und lächeln, während dir dein Kind die ganze Zeit gegen dein Schienbein tritt. Und dann kommen da so Schlaumeier, wie der Tassilo oder Sandra und Jeanine und erzählen dir, dass du bloß alte Wunden weitergibst und du die einzige bist, die es nicht schafft, klar, aufrichtig und verantwortungsvoll zu kommunizieren. Oh, ach echt?

Komisch, in einer Welt, in der mein Leben bislang in Balance war, hatte ich meine Trigger unter Kontrolle und selbst in stressigen Situationen war das möglich, weil ich wusste, danach kommt wieder eine Zeit der Ruhe. Aber das ist jetzt auf einmal seit Jahren nicht mehr so. Seit Jahren schlafe ich vier bis sechs Stunden und muss den Rest des Tages arbeiten, arbeiten, arbeiten. Und zwar nicht an einem Start-Up oder tollen Buchprojekt, das mir mal viel Kohle bringt, sondern an immer wieder kehrenden Sisyphos-Aufgaben, die nicht enden wollen. Ja, wie der Name schon sagt. Frustrierender und ätzender könnte das nicht sein. In allen andere Berufsbranchen wie der Pflege oder ähnlich Burnout-anfälligen Berufen wird das schon längst erkannt, auch, was das für brutale Folgen für die von ihnen abhängigen Menschen haben kann. Aber bei Müttern – denen steckt das doch in den Genen, dass sie sich so liebevoll aufopfern und völlig natürlich und fröhlich mit jeglicher Form der Überlastung klarkommen, sobald sie nur in die Augen ihrer Schützlinge schauen. Ich kotz im Strahl.

Nein, sie soll jetzt die Regeln der gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg abrufen können (by the way, hat sich schon mal irgendjemand Gedanken über seinen Vornamen gemacht?). Und die brav auswendig gelernten Regeln soll sie nun instinktiv und vor allem richtig anwenden können, auch wenn ihr gerade die Hutschnur hochgeht, der Kragen platzt, der Kamm schwillt oder sie einfach nur schreiend zusammenbrechen will. Klingt dramatisch? Das ist der Alltag der meisten Mütter! Kapiert? Seit der Geburt deiner Kinder hast du nur noch die Hälfte des Geldes, aber die doppelte Arbeit, du bist plötzlich einsam und fühlst dich alleinerziehend, auch wenn du verheiratet bist, du hast kaum noch Schlaf und Freizeit und Sport sind für dich Fremdwörter geworden, schon ein paar Minute in Ruhe auf dem Klo sitzen bedeuten eine kurzer Moment des Glücks. So tief bist du gesunken, so tief. Aber nein, das Glucksen deines Kindes, das schiefe Lächeln deines Sprosses, der Sabbermund deines Nachwuchses machen dich ja so glücklich. Denn Kinder geben dir so viel. Dann ist plötzlich deine Rentenlücke egal, deine drohende Altersarmut, dein Schlaf, deine Gesundheit, deine Träume, deine Ziele, du, ja, du bist egal. Nur noch deine Rolle zählt – Muttersein.

Und diese scheinheiligen Angebote von Massage-Studios und Fitness-Studios, die dir sagen, Mama braucht auch mal eine Wellness-Behandlung oder Tee-Marken, die dir den richtigen Beutel für eine ruhige Minute anbieten wollen oder schon wieder nette Ratgeber, die dir sagen, dass du auch mal ne Atemübung machen sollst, auch mal Fünfe gerade sein lassen – die verkaufen dir was – echte Hilfe bieten sie dir nicht. Niemand von denen will deinen Müll raustragen, deine Kinder hüten oder deine Wäsche falten und wegräumen. Niemand. Das sollst du bitte weiterhin allein machen. So, du Expertin in gewaltfreier Kommunikation. Läuft, oder? Im diesem Sinne, viel Spaß beim Kotzen.